„Es ist zweifellos wahr, ich habe die Welt entdeckt“
Einladung, Ror Wolf zu lesen – und zu hören und zu betrachten
Kai U. Jürgens
Der Maler und Publizist Hans Platschek wurde einmal gefragt, ob er sich mehr als Kritiker oder als Künstler verstehen würde, und antwortete darauf: „Kaum jemand weiß, wie gut ich Tenorsaxophon spielen kann.“ Die Antwort könnte von Ror Wolf stammen, auch wenn der das Musizieren schon lange aufgegeben hat. Tatsächlich aber ist Wolf, selbst wenn er sich primär als Schriftsteller versteht und als solcher über einen unverkennbaren Ton verfügt, schwer festzulegen. Einseitigkeit und Langeweile sind ihm nicht zum Vorwurf zu machen, statt dessen dominiert eine ebenso spielerische wie stets virtuos ausgeübte Vielfältigkeit. Prosa, Gedichte, Collagen, Hörspiele: Wer glaubt, sagen zu können, woran dieser Mann gerade arbeitet, muß sich irren.
Die Karriere von Ror Wolf begann 1958, als er seine frühe Erzählung Entdeckung hinter dem Haus in der Frankfurter Studentenzeitung Diskus veröffentlichte, deren Feuilleton-Redakteur er kurze Zeit später wurde. Schnell avancierte das Blatt zur Bühne für seine Texte, Gedichte und Collagen. Schon 1964 erschien sein erster Roman im Suhrkamp Verlag, dem weitere Bücher folgten: sein Abenteuerzyklus Pilzer und Pelzer etwa, oder Die Gefährlichkeit der großen Ebene. Doch auch eine erste Kurzgeschichtensammlung fällt in diese frühe Zeit. Die im Feuilleton vielbeachteten Texte machten vor allem eines klar: daß sich hier jemand zu Wort gemeldet hatte, der nicht nur über ungeheures erzählerisches Potential verfügt, sondern auch über eine hypnotisierende Sprachmelodie und über ein musikalisches Wortverständnis. Hier schrieb (und schreibt) jemand, dem nicht nur das wichtig ist, was er erzählt, sondern auch das, was er wegläßt, und selbst die Art, wie er es wegläßt.
Wovon handeln Wolfs Prosabücher? Nacherzählbare und damit festlegbare Handlungen haben sie nicht. Was den Leser erwartet – oder besser: womit er rechnen kann –, ist eine spielerische Auseinandersetzung mit der Realität. Wolf schätzt das inzwischen nicht mehr grundsätzlich verpönte Triviale, er braucht Elemente des Unterhaltungsromans, um seine Figuren auf ihre abenteuerlichen Reisen zu schicken – Reisen, die oft an ihren Ausgangspunkt zurückführen. Im eigenen Kopf ist alles möglich, und Wolf rechnet die Köpfe seiner Helden hinzu. Manch einer, der die ganze Welt umrunden konnte, hat in Wahrheit niemals sein Zimmer verlassen – zumindest scheint es so, und letzte Gewißheiten gibt es nicht. Der Leser wird mit Verbrechen, Katastrophen und bizarren Ereignissen konfrontiert, die in ihrer grotesken Häufung unmöglich ernst gemeint sein können; doch wer sie als Spielerei beiseite tut, verkennt, wie ernst es dem Autor tatsächlich mit ihnen ist. Hier sind nicht nur die Konventionen herkömmlichen Erzählens aufgehoben, sondern auch diejenigen der Wirklichkeit – oder dem, was wir als Wirklichkeit bezeichnen. Wolfs Figuren bewegen sich über ein Terrain, das sich nicht nur auf die Buchseiten erstreckt. Mancher Leser muß feststellen, daß es bei ihm zuhause eigentlich genauso aussieht.
Doch wer nun den Eindruck bekommt, hier würde mit schweren Gedanken hantiert, der täuscht sich. Die Leichtigkeit der Worte gehört zu den besonderen Qualitäten Ror Wolfs, und er weiß sie zu nutzen. Fast schwerelos erscheint einem vieles, was er geschrieben hat, und daß Figuren wie Leser unter diesen Umständen buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen bekommen, gehört dazu. Übrigens: Wer schwebt, kann auch abstürzen. Es wird viel gefallen in Wolfs Büchern: der eine fällt aus der Rolle, ein anderer aus großer Höhe in das Orchester, zwei Damen schließlich fallen hutlos übereinander her. Wer das schreibt, ist nicht nur mit großer Phantasie begabt, sondern auch mit einem Sinn für subtilen Humor, für leisen Witz, aber auch für berstende Kalauer. Wolfs Werk ist von großer Komik. Dies – und längst nicht nur dies – hat es mit den Arbeiten von Franz Kafka und Samuel Beckett gemein, zwei Autoren, die auf ihre Weise ebenfalls große Humoristen sind, auch wenn sie jahrzehntelang nicht als solche wahrgenommen wurden. Ror Wolf verdankt Kafka und Beckett (und übrigens auch Robert Walser) viel, aber auch Beckett und Kafka und Walser verdanken ihm viel, wenn man ihre Bücher mit der Kenntnis der Werke Wolfs wiederliest. Auf der Zeitlinie funktionieren überraschende Erfahrungen eben in beide Richtungen.
Neben der sprachlichen Virtuosität, der Leichtigkeit und der Komik soll ein vierter Punkt nicht unerwähnt bleiben: Wolfs Arbeiten sind auch ein Beispiel für literarische Hocherotik. Zu den Abenteuern, die seine Figuren erleben, gehören offenbar auch stets irritierende Erlebnisse um verführerische Frauengestalten, um Dinge, die sich aus zerwühlten Betten herausbiegen, um Haken, Verschlüsse, Schnallen, Schlaufen und Ösen, die sich unter den nervösen Fingern der Erzähler unaufhörlich zu öffnen und zu schließen scheinen. Kalt lächelt die Witwe, wenn sie den Reißverschluß ihres schwarzen Knautschlackmantels öffnet und – der Logik dieser Texte gemäß – immer wieder öffnet. Der emporrutschende Rock enthüllt die Strümpfe, und um diese schimmernden Strümpfe laufen die Maschen der ganzen Welt. Raffiniert ist hier nicht allein der Akt, sondern vor allem die sprachliche Vermittlung desselben. Womit wir wieder beim Thema wären.
Das Interesse am Medium Sprache war es, das Ror Wolf Anfang der 1970er Jahre zu seinen wohl populärsten Arbeiten führte: den Fußballbüchern und Radio-Collagen. Er schrieb dazu: „Die Welt ist zwar kein Fußball, aber im Fußball, das ist kein Geheimnis, findet sich eine ganze Menge Welt.“ Es war zwar auch und gerade der Fußball, der Wolf interessiert, aber noch mehr fasziniert ihn das, was hinter dem Fußball steht, was durch ihn erkennbar wird und sich durch ihn darstellen läßt. Gut fünfzehn Jahre suchte Ror Wolf Material aus Sport- und Tageszeitungen, aus Radio- und Fernsehberichten, vor allem aber in direktem Kontakt mit den Akteuren. Er sammelte, sortierte, katalogisierte, um schließlich die Bruchstücke in neue Formen zu gießen. Das zerrt die Banalitäten des Fußballs genauso ans Tageslicht, wie es seinen Triumphen ein Denkmal setzt, und es sagt viel aus über die Arbeitsgewohnheiten des Autors, dessen kreative Phantasie sich an Zitaten entzündet, an konkret handhabbarem Material, mit dem sich arbeiten läßt. Der Fußball wird hier auch als Simulation genutzt, als sprachliche Experimentierbühne, hinter der uns die Bodenlosigkeit unseres Realitätsbegriffs anklafft. Denn wenn sich – wie beim berühmten Weltmeisterschaftsspiel in Cordoba, bei dem Deutschland eine bis heute nicht verwundene Niederlage gegen den Erzfeind Österreich hinnehmen mußte – zwei Reporter nicht einmal in der Darstellung eines Spiels gleichen, wie soll man sich dann über erheblich komplexere Sachverhalte verständigen?
Die Resultate von Wolfs Beschäftigung mit dem Fußball sind nicht nur zwischen Buchdeckeln gesammelt, sondern auch in Form einer CD-Box erschienen. In der akustischen Version entfalten diese Arbeiten ihre wohl größte Wirkung. Dies ist kein Zufall. Wolfs Interesse für das Radio fällt mit seiner Leidenschaft für Jazz zusammen, den er seit frühester Jugend schätzt. Natürlich meint Wolf nicht die seelenlose Nudelmaschine, die die Autofahrer vom Einschlafen (und vor allem am Ausschalten) hindern soll, wenn er vom Radio spricht. Ihm geht es um ungenutzte Möglichkeiten der Kreativität, um ein neues Hörspielverständnis, um Vorschläge, die er den Hörern machen möchte. Seit 1969 hat Ror Wolf kontinuierlich für den Rundfunk gearbeitet. Sein bekanntestes Werk ist wahrscheinlich Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord-Amerika, für das er 1988 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet wurde. Ein meisterhaftes Hörspiel, ebenso elegant wie verhalten melancholisch und damit seinem Gegenstand mehr als ebenbürtig. Hier hatte der musikalische Geist von Ror Wolf Gelegenheit, sich eines musikalischen Themas anzunehmen, und er hat diese Chance genutzt. Wer das Stück hört, ahnt, warum sich dieser Autor nie mit dem Theater und nur höchst vorübergehend mit dem Film beschäftigt hat: Andere Medien sind seinen Methoden angemessener.
Doch Ror Wolf ist auch ein bildender Künstler, und er ist es von Anfang an. Seit den frühen 1960er Jahren verfertigt er Collagen mit Materialien aus der Gründerzeit, die er alten Lexika, Zeitschriften und Benimmratgebern entnimmt – damals billig beim Antiquar an der Ecke für ein paar Groschen zu bekommen. Auch hier sortiert Wolf zunächst die Vorlagen, ordnet sie, legt Archive an, bevor er die Bildzitate neu und überraschend zusammenfügt. Max Ernst und Peter Weiss sind ihm hier geistesverwandt; ihre motivisch korrespondierenden Bilder wirken wie unterschiedliche Antworten auf gemeinsame Fragen. Wer den Surrealismus liebt, wird sich der befremdlichen Poesie dieser Arbeiten kaum entziehen können, die das schriftstellerische Werk nicht illustrieren, sondern eigenständig begleiten.
Seit Anfang der 1980er Jahre sammelt Wolf seine Collagen in der Enzyklopädie für unerschrocken Leser, die es auf nicht ungewichtige sechs Bände gebracht hat. Sein Alter ego Raoul Tranchirer – der Name ist ganz offensichtlich Programm – äußert sich dort im Stil besagter Gründerzeitlexika zu Problemen der Zeit, zu Frostbeulen, Geißelbeize, Nonnengeräuschen und Vermehrungsgeschwindigkeit; und wer glaubt, daß ihn all dies nichts anginge, ist dem Autor schon auf den Leim gegangen. Wer zum Beispiel wissen möchte, wie aus einer Crèmetorte eine hübsch verzierte, liebenswürdig geschmückte und über den Tellerrand quellende Lebensgefährlichkeit wird, die uns der Ober zudem mürrisch serviert, schlage bei Tranchirer nach. Er kann allerlei Erfahrungen machen, und nicht nur die.
Ror Wolf ist im Juni 2007 fünfundsiebzig Jahre alt geworden. Wer ihn persönlich kennt, wird dies kaum glauben, wer seine zeitlosen Bücher schätzt, noch erheblich weniger. Abschließend soll daher noch kurz sein Leben skizziert werden. Ror Wolf wurde als Richard Georg Wolf am 29. Juni 1932 in Saalfeld/Thüringen geboren. Nach seinem Abitur im Jahre 1951 lehnt die DDR seinen Bewerbungen zu einem Studium ab, woraufhin er im Juli 1953 in den Westen geht. Er schreibt sich in Frankfurt zum Studium der Literatur, Soziologie und Philosophie ein und beginnt bald, in der bereits erwähnten Studentenzeitung Diskus Prosa, Lyrik und Bildcollagen, aber auch Literatur-, Theater- und Jazz-Kritiken zu veröffentlichen. Er wird Feuilletonredakteur beim Diskus und später Literaturredakteur beim Hessischen Rundfunk; seit 1963 ist er freier Schriftsteller. 1965 erhält er in Hannover seine erste Auszeichnung, den Niedersächsischen Förderpreis für junge Künstler, 2006 die bislang letzte, als seine gesammelten Fußballhörspiele Hörbuch des Jahres werden. Insgesamt 34 Umzüge führen ihn bis nach Basel, St. Gallen und ins englische Warwick, seit über fünfzehn Jahren aber wohnen Ror Wolf und seine Frau wieder in Mainz, wo sie von ihrer luftigen Wohnung aus einen klaren Blick über die Stadt haben.
Was Ror Wolf im Moment umtreibt, kann niemand sagen. Soeben sind unveröffentlichte Gedichte aus vierzig Jahren und ein neuer Kurzroman erschienen, aber das scheint noch längst nicht alles zu sein. Was auf der Festplatte seines Computers und in den Archiven abgelegt ist, weiß nur der Autor, der sich weiterhin unermüdlich zeigt. Doch was immer als nächstes veröffentlicht werden mag: Im Grunde rechnen wir mit allem.
Diese Rede für Ror Wolf wurde anläßlich der Ausstellung „Im Grunde rechne ich mit allem.“ Der Schriftsteller Ror Wolf und der Charme des Unerwarteten verfaßt und in dem Band Ähnliches ist nicht dasselbe. Eine rasante Revue für Ror Wolf (hrsg. von Oliver Jahn und Kai U. Jürgens, Verlag Ludwig 2002) veröffentlicht.
Die vorliegende und behutsam aktualisierte Fassung stammt aus dem Juni 2007.
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