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Wobsermeldung

Barbara Bausch
Spielformen der Störung
Ror Wolfs radikaler Realismus im Kontext experimenteller Prosa der 1950er-1980er Jahre
Transcript Verlag
Bielefeld 2024
ISBN: 978-3-8376-6812-4
Broschur, 474 S., € 51,-
Das Buch ist über die Verlagshomepage auch als "Open Access"-PDF greifbar: https://www.transcript-open.de/isbn/6812 (Der Link ist aus technischen Gründen leider nicht anders darstellbar.)
 
Raoul Tranchirers Taschenkosmos
Enzyklopädie für unerschrockene Leser
Auswahlband
Raoul Tranchirers Taschenkosmos
 
Erstausgabe
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen
von Günter Kämpf 
Wagenbach Verlag
Taschenbuch
128 Seiten  
Berlin: Erste Auflage 2005
Wagenbachs Taschenbuch 525
ISBN 978-3-8031-2525-5
€ 10,90 [D]
  leer

 

 

Nachwort von Günter Kämpf 
 

Wie mit Ratschlägern, Lexika oder Enzyklopädien umzugehen ist, weiß man hierzulande beinahe im Schlaf: man sucht einen Begriff, ein Stichwort, holt sich die Informationen oder den Rat oder findet gar nichts Befriedigendes – und damit hat sich´s. Vielleicht fällt einem aber dabei auch ein, mit welcher Faszination man als Kind oder Jugendlicher in entsprechenden Büchern geblättert und ganze Reisen im Kopf gemacht hat. Natürlich den Bildern nach, unbekleideten Körperteilen auf der Spur, aufklappbaren Bildtafeln, die unter der nackten Haut merkwürdige Innenansichten von Muskelsträngen oder der Verteilung von Organen offenbarten. Und natürlich den Wörtern nach, vor allem jenen prickelnden, die etwas mit dem Geschlecht, vor allem mit dem anderen, mit Lust und viel versprechenden, geheimen Dingen zu tun hatten, die sich freilich in den dürren Erklärungen schnell wieder verloren. Da waren exotische Wörter und Welten am Ende bedeutend spannender, weil sie sich im Kopf mit den bereits vorhandenen Vorstellungen verbanden und das Geheimnis eher noch größer machten.

All das findet sich auch in Ror Wolfs Ratschlägern, wobei aber sein Wirklichkeitsforscher Raoul Tranchirer die Welt eher kunstvoll auf den Kopf stellt. »Nie bekommt der Leser ein Bein auf die Erde«, stellte Ludwig Harig schon früh fest, »immer wird ihm der Kopf zurechtgesetzt, aber auf Ror Wolfs vertrackte Weise«. Tranchieren heißt ja im Wortsinn, Fleisch in Scheiben zu schneiden oder auch mit Geschick zu zerlegen, und das mit kulinarischem Ziel. Und ähnlich verfährt Ror Wolf, wenn er die bürgerliche Sprachwelt in lexikalische Stücke aufteilt und – in seinen Collagen – auch deren Bilder zerschneidet und neu zusammensetzt.

Es sind die bourgeoisen Ängste des 19. Jahrhunderts, die Furcht vor der noch nicht restlos gebändigten Natur, die Vorstellung zum Beispiel, für immer in einer unergründlichen Felsspalte zu verschwinden oder von Mikroben der fürchterlichsten Sorte heimgesucht zu werden, die den »Wirklichkeitshygieniker« Raoul Tranchirer bewegen. Es sind aber auch Wissenschaftsgläubigkeit und ungebrochener Fortschrittswahn, die Verhaltensnormen und der Moralkodex aus den Konversationslexika jener Epoche, die in den einzelnen Stichwortartikeln zu einem grotesken Kosmos mutieren. Das kann dem Autor auf eine bisweilen düstere Art komisch geraten. Dabei »entwickelt sich ein leiser, zwischen der Vornehmheitsattitüde Loriots und der Sanftheit Kafkascher Grimassen dünstender Unfug, dessen Pointe und humoristischer Glanz wohl ebenso daher rührt, dass Wolf Wahnsinn und Ängste der Bourgeois ebenso vernichtend entlarvt – wie er beides >affirmativ< gutheißt; ein wahrhaft diabolischer Trick« (so Eckhart Henscheid im Satiremagazin Titanic).

Aus dem Untergrund oder dem Körper selbst steigen Blasen, wulstige Formen oder schillernde Wucherungen auf, deren unheimliche Herkunft und drohende Wirkung auf unterdrückte Phantasien verweisen, die mit trivialen Anweisungen unter dem sich immer wieder hebenden Deckel gehalten werden.

Ror Wolf hat früh mit diesen Arbeiten begonnen: Fingerübungen dazu druckte die Frankfurter Studentenzeitung Diskus bereits 1961, das erste umfangreiche und mit vielen Bildcollagen des Autors versehene Buch dieses Genres erschien dann 1983: Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt. Bis zum Jahr 2002 sollten vier weitere Ratschläger folgen, die zusammen Raoul Tranchirers Enzyklopädie für unerschrockene Leser (so der Titel des fünften Bandes) bilden. Ob das Werk damit abgeschlossen ist, steht freilich in Frage: Als nächstes ist wieder ein neues Tranchirer-Buch angekündigt.

Kluge Literaturwissenschaftler und Kritiker haben in der Tranchirer-Enzklopädie eine literarische Großcollage ausgemacht. »Als parodistische Enzyklopädie entlockt sie den braven Gesichtern der bürgerlichen Welt ihre Fratzen und Monstren, als  poetische Enzyklopädie arbeitet sie, übervoll mit Worten, an der Konstruktion neuer Welten«, schreibt Andreas B. Kilcher. Und Hubert Spiegel zieht sogar einen Vergleich mit Arno Schmidt: »Wer das Ordnungssystem der Enzyklopädie, das die Unüberschaubarkeit der Welt zwischen zwei Buchdeckeln zu ordnen trachtet, ad absurdum führt, setzt die Wirklichkeit wieder in ihr Recht. Seit den Anfängen der modernen Literatur heißt dieses Recht Heterogenität, Absurdität. (…) Diese Enzyklopädie kündet von Zettels Traum, aber auch von Zettels Wut und Verzweiflung. Trost bieten allein die Wörter.«

Für Raoul Tranchirers Taschenkosmos habe ich Stichworte aus vier Ratschlägern ausgewählt, was etwa so schwierig war wie der limitierte Griff in eine volle Kiste. Da ich aber früher bereits das Vergnügen hatte, all diese Bände zu edieren, und dabei auch in den enormen Arsenalen der Wolf´schen Bildcollagen schwelgen konnte, ging es mir vor allem darum, die erzählerische Vielfalt dieses großen Prosaisten zu vermitteln. Ich hoffe, dass die Übung gelungen ist. Dieses Buch steckt voller köstlicher Prosaminiaturen – Ror Wolf ist eben auch ein Meister der kleinen Form.

Es empfiehlt sich also, die Suche nach guten Ratschlägen gar nicht erst aufzunehmen, sondern einfach drauflos zu blättern und sich, fast wie in Kindheitstagen, durch einen bunten, surrealen Kosmos treiben zu lassen.

Letzte Aktualisierung ( Freitag, 21. Dezember 2007 )
 
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