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Wobsermeldung

Uwe Schütte
Von der Allegorie zur Entropie - zu Gedichten und Collagen von Ror Wolf
Rezension zu Die plötzlich hereinkriechende Kälte im Dezember
 
Der freundliche Mond und das gierige Meer
Jürgen Roth
Der freundliche Mond und das gierige Meer 
Frankfurter Rundschau vom 29. Juni 2007
 
Der freundliche Mond und das gierige Meer

Im Rhein-Main-Gebiet leben mehrere Dichter, die viel zu eigenwillig und brillant sind, um jemals für den Nobelpreis in Frage zu kommen, obwohl sie ihn, ginge es mit rechten Dingen zu, längst hätten einstreichen müssen.

Zu ihnen zählt Ror Wolf, der 1932 im thüringischen Saalfeld geboren wurde und nach einer endlosen Reihe von Umzügen seit 1991 standhaft in Mainz logiert, neben einer Sektkellerei, hoch droben über der Altstadt.

Dort, in einer zweigeschossigen, penibel nach den Bedürfnissen des aus gewaltigen Mengen von Archivmaterialien schöpfenden Schriftstellers eingerichteten Atelierwohnung, arbeitet Wolf konzentriert an der beharrlichen Ausdehnung eines Œuvres, dessen populärste Teile die Fußballbücher und -hörspiele sind, das aber insbesondere die deutschsprachige Prosa und Lyrik um unerhörte Stillagen, Tonfälle und artistische Volten bereichert hat. „Neunzig Prozent“ des Gesamtwerks, darauf weist Wolf selber hin, haben mit dem Fußball nichts zu tun, und es sind die Terrains des Romans, der Erzählung und des Gedichts, auf denen er bei der Literaturkritik und bei Kollegen seit vierzig Jahren nahezu einhellig Beifall und Bewunderung erntet.

Einen „Schriftsteller der schwebenden Phantastik“ (Deutschlandfunk) heißt man Ror Wolf z.B., diesen im öffentlichen Raum des Kulturlärms und Gesinnungsgezeters kaum wahrnehmbaren Kundschafter in den Universen der Wörter und Klänge, diesen akribischen Wirklichkeitsforscher und zarten Realitätszertrümmerer, diesen Abenteurer in der bewohnten Welt und Jongleur des Trivialen, dem sich die vorgefundenen Bruchstücke aus den Sphären der sprachlichen und körperlichen Vor- und Unfälle vermeintlich mühelos zu unvergleichlich komischen und zugleich katastrophisch-bodenlosen Textgeweben verbinden.

„Selten ist in deutscher Literatur der scheinbar tragfeste Grund traditioneller Erzählweise so erdbebenartig erschüttert worden“, hat Rolf Michaelis einmal angemerkt, und von dieser Kunst der mitunter sogartig melancholischen Äquilibristik zeugt einmal mehr der gerade bei Schöffling erschienene Prosaband Zwei oder drei Jahre später. „Neunundvierzig Ausschweifungen“, so der Untertitel, versammelt er, und deren längste, „Zwölf Kapitel aus dem nackten Leben“, hat Christian Brückner außerordentlich taktvoll und präzise auf zwei CDs eingelesen (Edition parlando) – so bestimmt-zurückhaltend, daß Zeilen wie „die wunderbar weichen schöngeschwungenen Dachrinnen“ zu zittern und die Sätze zu gurgeln beginnen, wenn wir etwa hören: „Ich fühlte das Meer unter mir. Ich schwieg eine Weile, um über die Außergewöhnlichkeit des Meeres nachzudenken, über die Beispiellosigkeit des Meeres, nicht nur über seine ganze Ausdehnung, nicht nur über die Breite, sondern vor allem über die Tiefe.“

Durchaus möglich, daß Ror Wolf hier aus seinem eigenen, seinem geträumt-erfundenen Leben berichtet – doch auch ohne dieses Wissen treten wir da eine ungeheuerliche Reise durch collagiert-surreale, oft verregnete Landschaften an, unter schmatzenden und saugenden Himmeln, über fiebrige und sülzige Meere, durch Räume voller zerstückelter und abstürzender und verschlungener Körper, bis „eine riesenhafte Geräuschlosigkeit“ den mondsüchtigen Ich-Erzähler dem Verstummen entgegenträgt, das sich genauso beiläufig-abschweifend zu ereignen scheint wie all die prallen, entsetzlichen Geschehnisse, die in jedem Augenblick ins Komische und Lösende umzukippen vermögen.

„Zum Erfreulichsten, was an zugleich zeitgenössischer und komischer Dichtung veröffentlicht worden ist“, kürte Robert Gernhardt einst Ror Wolfs lyrisches Werk, und der parallel zum Prosa- ebenfalls bei Schöffling verlegte neue Gedichtband Pfeifers Reisen unterstreicht das eindrücklich; obschon sich auch zwischen den vielen sagenhaft federnden, vergnügt tänzelnden Moritaten, Balladen, Romanzen und Liedern die Verdunkelung, die Daseinsdüsternis in den Vordergrund zu schieben scheint, selbst wenn, wie in einem Gedicht von 1956, das eine Vorstufe des Wolfschen Jahrhundertpoems „wetterverhältnisse“ sein könnte, die Wörter sich spielerisch-pathosfrei zum Reimreigen fügen: „die sonne strahlt die kälte flirrt / die wolke schwebt die fliege schwirrt / die winde wehn die sonne sticht / der regen fällt der mond fällt nicht“.

Ror Wolf ist vor fünf Jahren an Krebs erkrankt, und das letzte Gedicht in Pfeifers Reisen, datiert auf das Jahr 2006, heißt „Siehe oben. Siehe unten“: „Wer nicht mehr stehen kann, mein Herr, bleibt liegen. / Und wer nicht gehen kann, mein Herr, bleibt stehn. / Was man nicht sagen kann, das wird verschwiegen. / Und wer nicht schweigen kann, mein Herr, muß gehn. // […] // Der Mond fällt nicht herab, der Mond fällt nicht, / der Mond ist weich, der Himmel ziemlich rot. / Ich halte meine Hand vor das Gesicht. / Man lebt nur einmal, und dann ist man tot.“

Ror Wolf feiert heute seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag, und zu seinen Ehren liest sein Freund Christian Brückner unweit der Wolfschen Behausung aus einem Werk von Weltrang – in einer Sektkellerei, obwohl, ich kann es nur allzu gut bestätigen, Ror Wolf sehr gern und freudig Bier trinkt. Nicht auszuschließen daher, daß sich dort anschließend folgende Szene abgespielt haben wird: „Vier Herren waren auf ein Bier gegangen, / in einem Land, wo man sich tief verneigt / und lächelnd auf den Zimmerboden zeigt. / Vier Herren sprangen und vier Herren sangen.“

Letzte Aktualisierung ( Donnerstag, 4. Oktober 2007 )
 
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